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„Das System ist fehlerhaft und kaputt“

Interview mit Pater Thomas H. Smolich SJ, internationaler Direktor des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes, über die gefährlichste Flüchtlingsroute der Welt und die Abschottung Europas

 

Pater Thomas H. Smolich JS über über die gefährlichste Flüchtlingsroute der Welt.

Frage: Die UN bezeichnet das Mittelmeer als eine der tödlichsten Passagen der Welt für Flüchtlinge. Die Gesamtzahl der über das Mittelmeer nach Europa kommenden Menschen ist zwar drastisch zurückgegangen, die Zahl der Todesfälle aber gleich geblieben. Was muss passieren, um diese Entwicklung zu stoppen?

Smolich: Die Route über das Mittelmeer ist gefährlich – das wissen auch die Flüchtlinge. Dennoch hören die Menschen nicht auf, diese Risiken in Kauf zu nehmen, weil sie verzweifelt sind. Für viele ist das Risiko, in die Heimat zurückzukehren, noch höher als die Reise über das Mittelmeer. Die Grenzen zwischen Migration und Flucht gehen ineinander über, wenn ein Boot mitten auf offener See auseinanderfällt und es um das blanke Überleben geht. Ganz abgesehen von den furchtbaren Misshandlungen, die viele der Flüchtenden auf der Reise durch Libyen und andere Transitländer erleiden mussten, um überhaupt auf eines der Boote zu kommen. Es ist eine schreckliche humanitäre Katastrophe, für die es keine einzelne Lösung gibt.

Frage: Während sich der JRS in über 50 Ländern für Flüchtlinge einsetzt, schottet sich Europa immer mehr ab. Müssten sich die europäischen Regierungen nicht viel solidarischer verhalten?
Smolich: Das System ist fehlerhaft und kaputt. Die europäische Gemeinschaft hat Griechenland und Italien als Rückhaltebecken benutzt. Die westlichen Nationen haben sich um Libyen „gekümmert“ und dabei ein kaputtes Land zurückgelassen. Es ist eine riesige Wunde, aus der immer weiter Flüchtlinge strömen. Wir bezahlen die Türkei, damit keine weiteren Menschen zu uns kommen. Drei Millionen werden deswegen in der Türkei zurückgehalten. Es ist eine schreckliche Situation! Dieses Problem ist auch ein fundamental spirituelles. Papst Franziskus spricht oft über unsere gemeinsame Menschlichkeit. Wir sollten uns fragen, wie wir an den Punkt gekommen sind, Flüchtlinge als entbehrliche Ressource zu sehen. Wie können wir dabei zusehen, wie die Zahl der Toten täglich steigt? Darin steckt eine Sünde der Menschen.

Es muss legitime Wege geben, Asyl in Europa zu bekommen.  Menschen, die auf Sicherheit angewiesen sind, müssen es schaffen, einen Antrag ohne unüberwindbare Hürden stellen zu können. Organisationen wie Sant’ Egidio haben dafür humanitäre Korridore eingerichtet. Mit Führung, Kreativität und einer spirituellen Basis können wir die Situation meistern. Nehmen Sie den Libanon als Beispiel: Nach zurückhaltenden Schätzungen sind ca. ein Viertel der Bevölkerung dort Flüchtlinge. Überträgt man dieses Zahlenverhältnis auf die EU, müssten die europäischen Staaten 128 Millionen Flüchtlinge aufnehmen. Davon sind wir weit entfernt. Es ist zu schaffen und wir müssen es schaffen.

Frage: Wie sieht die Situation der Flüchtlingskinder im Libanon aus?
Smolich: Viele Kinder verpassen einen Großteil der Schule, weil sie sich auf der Flucht befinden oder in ihren Heimatländern schon länger nicht zur Schule gegangen sind. Die Flüchtlingsfamilien im Libanon leben in überfüllten Lagern oder in Städten wie Beirut und müssen täglich ums Überleben kämpfen. Es ist keine Umgebung, um ein Kind kindgerecht großzuziehen. Auch das Schulsystem unterscheidet sich von den Schulen in den Heimatländern wie z.B. Syrien. Im Libanon wird Englisch und Französisch gesprochen. Viele syrische Kinder sprechen und verstehen diese Sprachen nicht. Hinzu kommt, dass syrische Kinder in den libanesischen Schulen häufig von oben herab behandelt werden.

Frage: Wie begleitet und unterstützt der JRS diese Kinder und ihre Familien?
Smolich: Die Situation ist für die Geflüchteten keine leichte. Es geht über interne Familienprobleme bis hin zu einer generellen Ausländerfeindlichkeit. Daher richtet sich ein Teil unserer Arbeit exklusiv an Geflüchtete. Es gibt beispielsweise Sommerschulen nur für Flüchtlingskinder. In der Regel öffnen wir unsere Angebote aber auch für die einheimische Bevölkerung. Das baut Barrieren zwischen den Bevölkerungsgruppen ab. Unser Fokus liegt zwar hauptsächlich auf den vertriebenen und geflüchteten Menschen, aber auch die Einheimischen haben Probleme, die mindestens genauso ernst sind wie die der Flüchtlinge. Deswegen ist uns wichtig, alles, was wir geben können, auch den Gastgebern anzubieten.

Frage: Was können wir in Deutschland tun, um die Menschen im Libanon zu unterstützen?
Smolich: Die Frage, wie wir mit geflüchteten Menschen umgehen, ist die Frage unserer Zeit. Es besteht Furcht vor Veränderung und vor Fremden, Furcht um die wirtschaftliche Stabilität oder interne Sicherheit des eigenen Landes. All jenen, die sich fürchten, lege ich ans Herz: Sprich mit einem Menschen, der geflohen ist! Lerne ihn kennen! Höre dir seine Geschichte an! Wenn wir das tun, sehen wir nicht mehr nur Zahlen, Ängste und Risiken, sondern wir fangen an, den Menschen zu sehen. Auf Basis dieser Geschichten und Lebenswege können wir ein neues Bewusstsein für eine gemeinsame Menschheit schaffen.

Das Interview führte Lena Kretschmann, Kindermissionswerk ‚Die Sternsinger’

>> Fotos aus dem Libanon finden Sie hier

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