„Wir müssen das Thema präsent halten"
Jesuitenpater Prof. Dr. Hans Zollner wurde 2014 von Papst Franziskus in die damals neu gegründete Päpstliche Kommission zum Schutz von Minderjährigen vor sexuellem Missbrauch berufen. Er gilt als einer der führenden kirchlichen Fachleute auf diesem Gebiet und ist Präsident des „Centre for Child Protection“ (CCP) an der päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. Das Kindermissionswerk ‚Die Sternsinger‘ arbeitet bereits seit 2013 eng mit dem von Pater Zollner gegründeten Zentrum für Kindesschutz zusammen. Jetzt war Pater Zollner zu Gast im Kindermissionswerk in Aachen. Im Interview mit Robert Baumann berichtet er über die Arbeit des CCP und spricht über die aktuelle Situation in der katholischen Kirche.
Pater Zollner, seit vielen Jahren steht die katholische Kirche wegen Missbrauchsskandalen in der Kritik. Sie kämpfen als Leiter des Kindesschutzzentrums gegen Kindesmissbrauch und gegen jede Form von Gewalt an Kindern. Wie gehen Sie mit den nicht abreißenden schlechten Nachrichten über Missbrauch in der Kirche um?
Zollner: Niemand kann die Welt alleine retten, aber ich kann meinen Teil dazu beitragen, dass Menschen, die verwundbar sind – und Kinder sind die Schutzlosesten in dieser Welt – sicherer aufwachsen können. Als Priester und Psychologe weiß ich: Menschen sind nicht von Haus aus gut, und in uns wohnen auch dunkle Kräfte. Deshalb ist mir klar, dass trotz aller Präventionsarbeit, die wir leisten, es nie zu einer vollständigen Ausrottung des Bösen kommen wird. Wir Menschen sind keine Computer, bei denen man einen Softwarefehler durch Umprogrammierung ausmerzen könnte. Wir sind Menschen, die gegen Gesetze verstoßen, die sich gegenseitig verletzen, bewusst erniedrigen und umbringen. Es wird immer – auch innerhalb der Kirche - Missbrauch geben. Aber: Prävention wirkt!
Können Sie verstehen, wenn sich Menschen aufgrund der vielen Missbrauchsfälle von der Kirche abwenden und austreten?
Zollner: Natürlich ist das verständlich. Das ist eine Enttäuschung, die weit über das hinaus geht, was viele Menschen ertragen können. Wenn Sie sich vorstellen, dass Sie einer Gemeinschaft angehören, deren Vertreter das Evangelium verkünden sollen und besonders für die Verwundbaren und Armen da sein sollen, und dann werden diese Menschen von Kirchenvertretern verletzt, teilweise so sehr, dass deren ganzes Leben zerstört ist, dann ist das schwer zu ertragen.
Mit dem „Treffen zum Kindesschutz in der Kirche“ im Vatikan und den neuen gesetzlichen Regelungen von Papst Franziskus zum Umgang mit sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche hat sich in diesem Jahr aber schon viel getan.
Zollner: In der katholischen Kirche bewegt sich aktuell sehr viel. Vor allem das im Mai vorgelegte neue Gesetz von Papst Franziskus mit dem Titel „Ihr seid das Licht der Welt“ macht beachtliche Schritte nach vorne. So muss jede Diözese bis 1. Juni 2020 ein Prozedere entwickelt haben, wie Missbrauchsfälle anzuzeigen sind. Das hört sich für uns wie eine Selbstverständlichkeit an, ist es aber de facto für 80 Prozent der Länder dieser Welt nicht, nämlich dort, wo Ressourcen knapp sind, und wo die Aufmerksamkeit auf dieses Thema bei weitem nicht so ausgeprägt ist. Ein weiterer wichtiger Schritt ist die allgemeine Anzeigepflicht für Geistliche und Ordensleute, wenn ein Verdacht von Missbrauch vorliegt. Und drittens geht es nicht nur um sexuellen Missbrauch, sondern auch um Machtmissbrauch, womit die enge Definition von sexualisierter Gewalt aufgesprengt wird und auch andere Formen von Missbrauch sanktioniert werden.
Mit dem neuen Gesetz wurde auch der Begriff „schutzbefohlene Erwachsene“ in die kirchliche Rechtsprechung eingeführt, wodurch die bisherige Konzentration auf Kinderschutz überstiegen wird. Politisch ist aber noch etwas anderes ganz entscheidend: Zum ersten Mal gibt es den Ansatz, die Rechenschaftspflicht von Bischöfen und Kirchenoberen anzugehen. Das ist ein großer Erfolg. Bislang konnte ein Bischof nur vom Papst sanktioniert werden, nun kommen auch untergeordnete Ebenen ins Spiel.
Sprechen wir über die Arbeit des „Centre for Child Protection“. Das CCP schult weltweit Personen, die mit Minderjährigen und anderen Schutzbefohlenen arbeiten. Was sind derzeit die größten Herausforderungen?
Zollner: Wir müssen uns für die Zukunft fragen: Für wen wollen wir überhaupt da sein? Wir müssen unser Spektrum ausweiten und auch die schutzbefohlenen Erwachsenen wie zum Beispiel Ordensschwestern mit einbeziehen. Wir überarbeiten unser E-Learning-Programm und konzentrieren uns dabei nicht nur auf die reine Inhaltsvermittlung, sondern auch auf das Messen der Lernfortschritte, auch auf der lebensnahen Haltungsebene: Wie kommt das vermittelte Wissen bei den Lernenden an, und wie befähigt es sie, entschieden und wirksam im Sinn der Prävention zu wirken? Das müssen wir verstärkt in den Blick nehmen.
Seit mehreren Jahren arbeiten das CCP und das Kindermissionswerk sehr eng zusammen. Wie soll die zukünftige Zusammenarbeit aussehen?
Zollner: Wir müssen eine „Global Alliance“, ein weltweites Netzwerk von Akteuren im Kinderschutz schaffen und dieses Netzwerk mit unseren vielen Partnern und den damit verbundenen Kompetenzen effizient nutzen. Wir müssen auf akademischer, pastoraler, sozialer und edukativer Ebene gemeinsam mit den Sternsingern ein Modell entwickeln, um ein effektives Netzwerk zu gründen und auszubauen, so dass Ressourcen leichter verfügbar sind – über Kultur- und Sprachgrenzen hinweg.
Wenn Sie auf die Arbeit der letzten Jahre zurückblicken: Wo sehen Sie Erfolge des CCP?
Zollner: Wir haben mittlerweile in unserem Diplom-Kurs über 80 Absolventinnen und Absolventen, von denen wir erwarten, dass sie Multiplikatoren sind und in ihren Diözesen, Verbänden, Ordensgemeinschaften usw. im Bereich Prävention arbeiten. Das CCP leistet einen wichtigen Beitrag dazu, dass die Themen „sexueller Missbrauch“ und „Kinderschutz“ jetzt auf Weltebene gesetzt sind und dass immer mehr Bischofskonferenzen, Ordensgemeinschaften und andere kirchliche Institutionen sich mit dem Thema bewusst auseinandersetzen. Das ist enorm wichtig. Wir müssen das Thema präsent halten, das sind wir uns und den Kindern schuldig. Und wir sind es unserem Herrgott schuldig, wenn wir seinem Auftrag gerecht werden wollen, dass die Kinder zu ihm kommen sollen und nicht in ihrem Leben zerstört werden.